Die Zeit der Flüchtlinge

Paradoxerweise hat die Region um Lüneburg trotz alldem langfristig stark vom zweiten Weltkrieg profitiert. Der Bevölkerungszuwachs durch die Flüchtlinge hat dem Lüneburgischen, das sich nach den Krisen zu Beginn des 20. Jhs zunächst in einem langsamen Niedergang befunden hatte, sowohl demographisch als auch wirtschaftlich zu einem deutlichen Aufschwung geführt.

So auch in Gifkendorf.

Das Dorf war zunächst kaum vom Krieg betroffen. Zwar waren mehrere Männer seit 1939 als Soldaten im Krieg, doch bis 1943 gab es nur zwei Todesmeldungen (Kroll und Marquardt). Erst 1943 erreichte der Krieg Gifkendorf wirklich in seiner ganzen Härte.

Mehrere Flüchtlingswellen

Im Juli 1943 erlebte die Stadt Hamburg drei Tage lang eine beispiellose Bombardierung und Zerstörung (Operation Gomorrha). In der Folge mussten 900.000 Personen evakuiert und in ganz Deutschland umgesiedelt werden. So zum Beispiel Anni Lieding, Kriegswitwe (ihr Mann war in Stalingrad gefallen), wohnhaft in Harburg, die auf dem Hof 3/38 einquartiert wurde. Platz gab es genug auf den alten Bauernhöfen. Der Landwirt baute ihr erstmal einen kleinen Wohnraum mit Sperrholzwänden im ersten Stock des Gebäudes.

Hamburg im Juli 1943, was von einer Stadt nach drei Tagen und drei Nächten Bombardierung übrig blieb: eine Trümmerlandschaft (Bild Wikipedia), ein großer Teil der Bevölkerung musste schließlich evakuiert werden.

Die zweite Flüchtlingswelle erreichte Gifkendorf im Winter 1944–1945. Im Osten brach die Front zu der Zeit zusammen. Die Russen waren ständig auf dem Vormarsch und schoben vor sich eine endlose Flüchtlingswelle her. Die Trecks aus dem Osten kamen ununterbrochen über die Elbe und die Leute wurden aufs Land verteilt. Im Februar 1945 stand plötzlich ein Treck von 10 bis 12 vollbepackten Pferdekarren in Vastorf, die Flüchtlinge wurden zwischen Gifkendorf, Vastorf, Niendorf und Wulfstorf verteilt. Sie kamen aus Neu Briesen, Kreis Wongrowitz (bei Posen im heutigen Polen), sie waren am 20. Januar gestartet und erreichten schließlich mit Glück und ohne große Zwischenfälle am 13. Februar (über Berlin) Vastorf. Im Treck befand sich unter anderen Philipine Kandel mit sechs Kindern (darunter einem Säugling) und ihre Mutter. Die ganze Familie fand eine Unterkunft in den verschiedenen Gebäuden des Hofes 5/61.

Lüneburg, Treck in der Bäckerstraße, Frühjahr 1945 aus Helmut Pless, „Lüneburg 45“, S. 67.

Und so ging es weiter, Woche für Woche. Im März kam ein weiterer großer Treck aus Slubice (heute Polen); die Familien Gerlach und Gerth, die mit diesem Treck gekommen waren, wurden auf dem Hof 3/38 im Pferdestall einquartiert.

Das Kriegsende brachte schließlich eine dritte Welle mit sich, die glücklicherweise nur kurzfristige Konsequenzen hatte. Im Mai 1945 befahlen die Engländer die komplette Räumung des linken Elbufers bei Bleckede, die Bevölkerung musste das Gebiet sofort verlassen und sich irgendwo neue Quartiere suchen. Im selben Monat beschlossen die Engländer, Bardowick als Zentrum für polnische Zwangsarbeiter einzurichten. Innerhalb von 24 Stunden mussten die 5.000 Einwohner die Stadt verlassen. So kam Henni Steber mit drei Töchtern und nur wenig Gepäck in Gifkendorf an, wo sie für mehrere Monate auf dem Hof 3/38 einquartiert wurden.

Auf dem Hof leben

Mit dem Kriegsende beruhigte sich die Lage langsam. Nach und nach kehrten die Männer aus der Gefangenschaft zurück. 1950 hatte sich die Bevölkerung in Gifkendorf durch die Flüchtlinge verdreifacht. Das Dorf war komplett überfüllt. Es gab natürlich keinen Neubau, man griff auf Vorhandenes zurück, jede beheizbare Räumlichkeit war mit einer Familie belegt. Der Hof 5/61 zählte 32 Personen, der Hof 3/38 sogar 35.

Dort wohnten im Wohnbereich die Landwirtsfamilie (Mundhenke-Wollschläger, 6 Personen), die Familien Zerrath und Erchen (5 Personen). Im ersten Stock fanden schließlich 3 Familien Platz: Die Witwe Lieding, die schließlich einen Flüchtling aus Vastorf heiratete, Martin Benz, mit dem sie 2 Kinder, Martin und Erwin, bekam (also 4 Personen), die Familien Ballay und Bukowski (9 Personen). Im Pferdestall wohnten die Familien Gerth und Gerlach (7 Personen) und im Schweinestall richteten sich die Familien Pikaus und Gotlieb (4 Personen) ein.

Hof 3/38, die Hofgemeinschaft versammelt aus Anlass des Geburtstages der Großmutter Gerth um 1955 (Bild Familie Benz).

Alle wohnten zusammen und die schwierige Versorgungslage machte dieses Zusammenleben sicherlich nicht einfach. Eier und Milch verschwanden ab und zu. Und die Flüchtlinge wurden verantwortlich gemacht, für alles was schief ging. Burkahrdt Gerlach erinnert sich an eine Auseinandersetzung zwischen seiner Mutter und der Landwirtin, wo zuerst die Beschimpfungen („Polakenpack“ …) und dann die Fetzen flogen, in Form von Ohrfeigen.

Aber alles in allem beruhigte sich die Lage. Den Flüchtlingen wurden Gartenparzellen zwischen dem Dorfzentrum und der Kreuzung nach Solchstorf zugewiesen. Es war die Zeit der Gartenbaracken, wo Hühner und Kaninchen gehalten werden konnten.

Hof 3/38 (Solchstorfer Straße), im gelben Kreis die Gartenbaracken der Flüchtlingsfamilien, wo sie Gerätschaften deponieren, aber auch Kaninchen und Hühner züchten konnten (Bild: Familie Böttcher-Clemenz).

Viele Flüchtlinge fanden schließlich Arbeit als „Kulturleute“. Die Engländer hatten die Wälder um Lüneburg stark abgeholzt, dieses Holz wurde als Kriegsreparatur nach England verfrachtet. Die Waldflächen mussten aber wieder aufgeforstet werden und alle wurden gegen Bezahlung damit beschäftigt: Männer, sobald sie wieder da waren, aber auch Frauen und Kinder. Es war ein Segen für die Familien, die auf diese Weise endlich über eine kleine Wirtschaftsgrundlage verfügten.

Schließlich bildeten sich auf den Höfen richtige Wohngemeinschaften. Auf Hof 3/38 traf man sich am Abend in der Diele, die Männer beim Skat, die Frauen beim Stricken oder Tanzen, Familienfeiern wurden mit der ganzen Wohngemeinschaft gefeiert.

Tanzabend mit den Flüchtlingsfamilien auf dem Hof 3/38 um 1955 (Bild Familien Benz).

Die Wirtschaftslage entspannte sich nach und nach, die Versorgung war erstmal gesichert, die Wohnsituation blieb lange das Problem.

Ein neuer Anfang

Den Flüchtlingen fehlte das Kapital für einen Neuanfang. Die meisten hatten alles verloren und hofften erstmal auf eine politische Lösung, die aber Anfang 1950 noch nicht absehbar war. Der deutsche Staat lag immer noch am Boden, Geduld war angesagt.

Philipine Kandel wollte nicht mehr warten. Sie lebte mit ihren sechs Kindern in einer alten Kate und sie beschloss um 1950, ihr Pferd, das die Familie auf der Flucht 1945 begleitet hatte, zu verkaufen. Von dem Erlös kaufte sie eine Baustellenbaracke der Firma Manzke; die Bauteile transportierte der Bauer Persiehl nach Gifkendorf. So entstand am Rand des Dorfplatzes das Haus 17/12a, als erstes Wohnheim einer Flüchtlingsfamilie in Gifkendorf.

Haus 17/12a: Ehemalige Baracke der Firma Manzke, die zum Heim der Familie Kandel in Gifkendorf wurde (Bilder Archeokit).

Im Laufe der 1950er Jahre zeichnete sich endlich doch eine politische Lösung für das Wohnproblem ab. Im Rahmen des Lastenausgleichgesetzes wurden den Flüchtlingen Entschädigungen angeboten, begleitet von günstigen Darlehen. Sie sollten Grundstücke mit großen Gärten kaufen können, damit sie sich teilweise selbst versorgen konnten. Mit diesem Gesetz kam es zu einer raschen Entwicklung in der Flüchtlingsfrage. Viele verließen das Dorf, um sich irgendwo anders neu einzurichten, aber einige Familien (Familie Kandel und Borkowski) entschieden sich, in Gifkendorf zu bleiben. Dank Entschädigung kam es im Dorf gegen Ende der 1950er Jahre zu einem richtigen Bauboom an den Straßen nach Rohstorf und Aljarn.

Aljarner Straße, Häuser, die Ende der 1950er Jahre dank des Entschädigungsprogramms des Bundes gebaut wurden (Bild: Archeokit).

Später ließ sich auch Martin Müller in Gifkendorf nieder und baute ein eigenes Heim 24/32 im Dorf. Er selbst gehörte zur Gruppe der Wolhynien-Deutschen, die sich vor allem im 19. Jh. in der heutigen Ukraine angesiedelt hatten. Er kam als Flüchtling aus der Region von Lusk. Seine Familie hatte sich zunächst in Wennekath niedergelassen, er heiratete und baute in Gifkendorf.

Als die letzte Flüchtlingsfamilie (Bernhard Gerth) den Hof 3/38 im Jahr 1967 verließ, war die Normalität im Dorf längst zurückgekehrt.

Die Flüchtlingsbewegungen haben das Dorf sowohl demographisch, als auch wirtschaftlich und baulich stark verändert. 1939 zählte Gifkendorf 97 Einwohner und 16 Wohngebäude, 1960 hatte das Dorf 160 Einwohner bei 21 Gebäuden.